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Farbe und Gestalt für den blinden Fleck

Mitstimmen - Joshua Suwelack im Gespräch mit Dr. Ernst Stöckmann.

Nahezu ein Drittel der Bevölkerung Sachsen-Anhalts ohne deutschen Pass hat eine Unionsbürgerschaft. Dennoch reagierten die Politik und die Landesstrukturen bisher zu wenig auf die Herausforderungen und Potenziale, die damit für unser Bundesland einhergehen. Das möchte die neue Fach- und Servicestelle EU-Migration Sachsen-Anhalt im einewelt haus seit Ende 2020 ändern. Ein Gespräch mit dem EUmigra-Leiter Dr. Ernst Stöckmann. 

 

Foto: Manja Lorenz

Von Joshua Suwelack


Ernst, das im Herbst 2020 ins Leben gerufene Landesprojekt EUmigra will den EU-Bürger:innen in Sachsen-Anhalt die ihnen nach EU-Recht zustehende Gleichbehandlung sichern. Was bedeutet das?

 

Rein rechtlich gesehen steht der Unionsbürger bereits auf Augenhöhe mit dem Magdeburger Bürger. Am Ende geht’s aber natürlich auch darum, wie behandele ich jemanden, wie begegne ich ihm. Da haben wir mit gutem Grund eine breite Diskussion. Es gibt beispielsweise Studien, die zeigen, dass Unionsbürger in vielen Behörden als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt werden. Vielen wird unterstellt, dass sie eben nur kommen, um bestimmte Rechte wahrzunehmen. Gleichzeitig wissen wir ja sehr genau, dass Unionsbürger zum Beispiel dafür sorgen, dass in Deutschland die Ernten eingebracht werden, die Fleischindustrie ihre Produkte liefert, die Logistik ihre Transportaufgaben bewältigt, die Pflegebranche Menschen unterstützend versorgt etc. Grundsätzlich sind Unionsbürger mit den gleichen Rechten ausgestattet, weil sie die EU-Freizügigkeit genießen – zu Recht! In der Praxis sieht es leider häufig noch anders aus. Es halten sich bereichsübergreifend hartnäckig die Vorurteile, dass man es hier einerseits mit rechtlichen Bittstellern zu tun hat, andererseits mit Menschen, die sich Vorteile erschleichen wollen. An dieser verzerrten Perspektive gilt es zu arbeiten. Und wenn das geschehen ist, wird der Behördenmitarbeiter bspw. die ungarische Familie mit anderen Augen ansehen. Da wollen, da müssen wir gesellschaftlich hin.

 

Zum einen geht es darum, die vorhandenen Unterstützungsstrukturen im Land für die Sache der Unionsbürger zu sensibilisieren. Das heißt beispielsweise, Unterstützungsangebote – auch mehrsprachig – offensiver sichtbar zu machen. Wir verbessern durch geeignete Medien das Matching und die Kommunikation der Unterstützer untereinander. Auf der anderen Seite gilt es, in einem lebendigen Kontakt mit den Unionsbürgern und den Communities selbst mitzubekommen: Was wird benötigt? Wo drückt der Schuh? Unsere Rückmeldungen aus den Communities zeigen, dass wir viel Nachholbedarf haben, was die Bedarfswahrnehmung der EU-Angehörigen bei Behörden und staatlichen Strukturen betrifft. Es ist wie im wirklichen Leben: Je näher man an den konkret Betroffenen ist, desto mehr erfährt man von den wahren Bedarfen und Herausforderungen.

 

Auf der anderen Seite wollen wir einen Perspektivwechsel vermitteln. Dass wir einfach einen bestimmten Fokus immer wieder auf diese Zielgruppe lenken und dadurch in gewisser Weise Politik machen. Das ist eine Form der Wahrnehmungspolitik und Wahrnehmungslenkung und diese Zielgruppe hat es verdient, gebührend wahrgenommen zu werden. Nicht nur weil sie verdienstvoll ist. Ich erwähnte den Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt. Sondern weil in der Medienlandschaft die Nachbarländer, wenn etwas nicht klappt, häufig einseitig als Problemfall wahrgenommen werden. Da kann man jeden Tag in den Zeitungen schauen und fragt sich: Was wird eigentlich von unseren europäischen Nachbarländern sozial, kulturell, politisch etc. rübergebracht. Das ist gemeinhin erschreckend wenig.

 

Im Juni ist Landtagswahl. Wenn du über ein Thema entscheiden könntest, was würdest du ändern?

 

Ich denke, da gehören viele Mosaikbausteine dazu. Zuallererst sollte die politische Wahrnehmung stärker auf das, was die Europäer vereint - von wirtschaftlich bis kulturell –gelegt und mit Maßnahmen glaubwürdig untersetzt werden, sonst bleibt Europa ein bürokratisch-formelhafter Ideenapparat. Ein Vorschlag wäre, die mehrsprachigen Informationsangebote für die EU-Angehörigen auf allen Ebenen zu verbessern. Internationalisierte Kommunikation ist ein wichtiges Signal der Verständnis- und Verständigungsbereitschaft. Da sollte sich ein gewisser Standard durchsetzen. Denn wenn die Unionsbürger in Sachsen-Anhalt die stärkste Zuwanderungsgruppe bilden, sollten sie auch im Bereich der Übersetzungen dementsprechend berücksichtigt sein, statt ihnen zu unterstellen, dass sie sich auch ‚auf eigene Faust‘ zurechtfinden.

 

Ist das gerade für osteuropäische Sprachen der Fall?

 

Ja, Englisch ist immer vertreten, Französisch ist immer vertreten. Italienisch und Spanisch sind in jedem Fall selten oder gar nicht vertreten. Aber unser Blick geht eben oft auf Osteuropa aus dem maßgeblichen Grund, weil die genannten Länder anhand der Anzahl der Zuwanderungszahlen die bedeutendsten Länder sind und eben auch von dort die meisten mobilen Beschäftigten als Unterstützer des heimischen Arbeitsmarktes kommen.

 

Wieso entstand EUmigra gerade unter dem Dach der Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt?

 

Dass EUmigra als Projekt im Haus des Traditionsträgers AGSA entstand und entwickelt wurde, kann man nur als folgerichtig bezeichnen. Die europäischen Migrantenorganisationen des AGSA-Dachverbandes mahnten schon seit einiger Zeit ein Korrektiv an, dass die Perspektiven der Landespolitik stärker um die Belange der Unionsbürger erweitert. Sie vertreten hautnah die Interessen derjenigen, die aufgrund der EU-Freizügigkeit schon länger hier leben und arbeiten.

 

Gab es so etwas wie einen Richtungswechsel in der AGSA?

 

Die AGSA-Themen weisen eine große Bandbreite auf. Es ist und bleibt wichtig, dass die Diversität der AGSA-Mitgliederschaft weiter in den und Rückkopplungen und sind Projekten und Aktivitäten repräsentiert ist. Unsere Hauptvision ist, gemäß der Leitziele des Landesintegrationskonzepts zu einer umfassenden interkulturellen Öffnung der Gesellschaft zu kommen. Unsere Mitgliedsorganisationen geben da seit Jahr und Tag wichtige Impulse, sind letztlich auch Taktgeber für Schwerpunktsetzungen.

 

Reicht Arbeitsmarktintegration für die Ziele EUmigras?

 

Bei der grundsätzlichen Beschreibung des EUmigraProjekts ist natürlich die Verbesserung der Arbeitsmarktintegration ein zentraler Teil, und hier arbeiten wir eng mit landesweiten Akteuren wie ZEMIGRA und BemA zusammen. Aber genauso elementar sind die Belange der sozialen und kulturellen Teilhabe und Gleichberechtigung, die in der öffentlichen Wahrnehmung wie in der Wahrnehmung der Unterstützungsstrukturen vielfach noch zu kurz kommen. Warum soll denn jemand, der hier auf dem Bau oder als Erntehelfer tätig ist, nur als mobiler Arbeitnehmer begriffen werden? Warum soll er nicht auch ausreichend Zeit erhalten, um Land und Leute kennenzulernen, sich weiter zu bilden, seinen Hobbys nachzugehen? Was braucht es, um auch diese Bedarfe mit aufzunehmen? Warum wird der individuelle Lebenshorizont immer auf das Arbeitsleben beschränkt? Das ist natürlich ein gesamtgesellschaftliches, kein EUspezifisches Problem, aber ergibt sich als Fragestellung wenn man sieht, dass viele mobile EU-Angehörige oftmals ausschließlich als Arbeitskräfte dieses Land bereichern und dann auch so reduziert gesehen werden. Man braucht gerade in einem fremden Land Zeit, um sein Sozialleben zu pflegen, die Lebenskultur als interkulturelle Möglichkeit der eigenen Lebensbereicherung zu entdecken. Und EU-Angehörige sollten mehr Spielraum haben, ihre Kulturen zu zeigen und zu leben. Wir weisen notorisch auf den gesellschaftlich-politischen Nachjustierungsbedarf in der Frage der Unionsbürgerschaft, EU-Freizügigkeit und -Zuwanderung hin und sind ein durchaus kritisches Projekt, konstruktiv versteht sich. Es kommt alles in allem darauf an, den blinden Fleck Schritt für Schritt durch ein farbenreiches 3D-Profil der real existierenden Handlungsbedarfe zu ersetzen.


Die nächsten Veranstaltungen von EUmigra:

September 2021: Fachaustauschkonferenz Matching EU Sachsen-Anhalt. Fachveranstaltung von EUmigra in Kooperation mit dem Netzwerk „Willkommenskultur und Fachkräftegewinnung“

 

Oktober 2021: EUmigra Themenreihe „Gleichgestellt –gleichbehandelt? Wege zu fairen Arbeitsund Lebensbedingungen für Unionsbürger:innen in Sachsen-Anhalt“ (Thema N.N.) Was ist die Aufgabe von EUmigra?